Der Leibniz-Forschungsverbund "Wert der Vergangenheit" ist aus seinem Vorgänger hervorgeganen, dem Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität. Dieser wurde von der Leibniz-Gemeinschaft und seinen Mitgliedern von 2013-2021 gefördert. Hier finden Sie die wichtigsten Informationen zum Vorhaben.

Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit in einer nie gekannten Intensität auf historische Authentizität zielt. Dies zeigt sich an dem Wert, der „authentischen Objekten“ in Museen, Sammlungen und Archiven ebenso zugesprochen wird wie „authentischen Orten“, seien es historische und historisierende Bauten, städtische Ensembles oder Gedenkstätten. Die regelrechte Sehnsucht nach „authentischen Erfahrungen“ in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begegnete uns darüber hinaus in der Wertschätzung von Traditionen, von Zeitzeugen oder im Re-Enactment. Sie ist begleitet von der Suche nach dem vermeintlich "Echten" und dem Bestreben, das "Wahre" und "Originale" zu erhalten.

Der Leibniz-Forschungsverbund "Historische Authentizität" untersuchte in transdisziplinärer und internationaler Perspektive, wie historische und zeitgenössische Authentizitätsvorstellungen den Umgang mit dem kulturellen Erbe beeinflusst haben. Er erforschte die damit verbundenen Bestrebungen zur Autorisierung von Vergangenheit durch Authentifizierung und Authentisierung anhand der Rekonstruktion und Konservierung von historischen Spuren, der kulturellen Speicher- und Formungsfunktion von Sprache, der Entwicklung von Schulbüchern und Karten ebenso anhand der Konzeption von Museen, Archiven, Denkmälern und Gedenkstätten.

Der Leibniz-Forschungsverbund "Historische Authentizität" vereinte historische Grundlagenforschungsinstitute, Forschungsmuseen und bildungswissenschaftliche Einrichtungen, die den Bogen von den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu den Sozial-, Technik- und Lebenswissenschaften schlagen. Die meisten dieser Einrichtungen nehmen seit 2021 am Leibniz-Forschungsverbund "Wert der Vergangenheit" teil.

Forschungsziele

Der Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität widmete sich insgesamt dem Wert des Authentischen im Umgang mit dem Natur- und Kulturerbe, in Museen, in der Denkmalpflege und Stadtentwicklung, in Gedenkstätten und der Living History. Wir diskutierten Bewahrungsstrategien in Museen, Sammlungen und Archiven und analysierten Authentizitäts- und Identitätspolitiken in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über das kulturelle Erbe und im Rahmen der Geschichtspolitiken der Gegenwart.

Dazu hatten wir folgende Problemhorizonte und Querschnittsfragen definiert:

Historische Authentizität als Problem der Gegenwart

Untersucht wurde die für zeitgenössische Gesellschaften so charakteristisch erscheinende Sehnsucht nach historischer Authentizität. Im Rahmen transnationaler, zeitlich diachron und synchron vergleichender Perspektiven wurde gefragt, inwieweit der Aufstieg des Authentizitätstopos seit den 1970er Jahren mit gesellschaftlichen Veränderungen sowie einem Wandel des Geschichtsverständnisses korreliert.

Zeitschichten historischer Authentizität

Die Rekonstruktion historischer Authentizität zielt heute weniger auf die Wiederherstellung und Bewahrung eines "ursprünglichen" Zustands, sondern vermehrt auf eine Sichtbarmachung verschiedener Zeitschichten. Anhand der Restaurierung und Präsentation archäologischer Funde und materieller Überlieferung sowie des Umgangs mit historischen (Stadt-)Landschaften untersuchte der Forschungsverbund die Historizität kultureller Überlieferung, in der sich vergangene Aneignungsweisen und Rezeptionsprozesse widerspiegeln.

Historische Authentizität in transnationaler Perspektive

Postkoloniale Zugänge zur Geschichte enthüllen zunehmend wie kulturell divers und regional spezifisch Authentizitätsvorstellungen sind. Wir fragten, inwieweit der Aufstieg des Authentizitätstopos als globales Phänomen angesehen werden muss und welche nationalen, regionalen und gruppenspezifischen Charakteristika identifiziert werden können.  Lässt sich von einem globalen Transfer und einer Harmonisierung von Authentisierungsvorstellungen sprechen?

Geschichtskonflikte zwischen Authentizität und Autorität

Geschichtskulturelle, (erinnerungs-)politische und wissenschaftliche Debatten äußern sich als Konflikte um Authentizität. Untersucht wurde der instrumentelle Charakter von Authentizitätsansprüchen in unterschiedlichen nationalen, regionalen und transnationalen Kontexten, die oft als Strategien für politische, soziale, ökonomische und gesellschaftliche Ziele zu interpretieren sind.

Autorität und Autorisierung bestimmen dabei maßgeblich die Auswahl dessen, was eine Gesellschaft als "ihre" kulturelle Überlieferung begreift. In wissenschaftshistorischen und geschichtskulturellen Perspektiven wird die Konflikthaftigkeit von Authentizitätsbehauptungen u.a. bei der Durchsetzung von wissenschaftlichen Paradigmen, bei der Entstehung von Sammlungsidentitäten, der Präsentation von Ausstellungen sowie der Entwicklung von Karten und Schulbüchern untersucht.

Historischer Wandel von Beglaubigungsstrategien

Authentizitätszuschreibungen sind Modi der Evidenzerzeugung. Sie sind eingebettet in wissensspezifische Diskurse und beruhen auf Logiken wissenschaftlicher Verfahren und Praktiken, eingeübten Rhetoriken und Visualisierungsstrategien sowie gesellschaftlich verankerten Ritualen des Authentisierens. Der Forschungsverbund untersuchte, wie sich wissenschaftliche Denkstile, institutionelle Rahmenbedingungen sowie Praktiken in Museen, Archiven und anderen erinnerungskulturellen Institutionen auf Beglaubigungsstrategien auswirken.

Historische Authentizität und medialer Wandel

Mediale Umbrüche verändern Evidenzmaßstäbe und erzeugen neue Möglichkeiten der Authentisierung. Heute werden neue Informationstechnologien – web-basierte Archivierung, digitale Geovisualisierung sowie computerlinguistische Tools zur Rekonstruktion historischer Bedeutungszusammenhänge – genutzt, um historische Wissensbestände zu bewahren, zu erforschen und ihre Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu vermitteln. Reflektiert wurde, wie Medien die Wahrnehmung und Herstellung historischer Authentizität beeinflussen.

Historische Authentizität als Erfahrungsdimension

Das Bedürfnis nach historischer Authentizität zeigt sich u.a. in der Wertschätzung von "authentischen Objekten" und "authentischen Orten", aber auch in der Emphase, mit der man Zeitzeugen begegnet oder in die Geschichte durch Re-Enactments eintaucht. Die sinnliche Anmutungsqualität der Überreste, Relikte und Spuren sowie die Empathie für gelebte und "verkörperte" Geschichte entscheiden zunehmend über den Grad der Aufmerksamkeit, die einem vergangenen Ereignis oder einer Epoche zu Teil wird. Der Forschungsverbund untersuchte das Spannungsverhältnis von historischer Erfahrung, Erlebnis und reflexiver Aneignung von Geschichte, von historischer Authentizität und Inszenierung.

Der Forschungsverbund bündelte seine Arbeit in vier Themenlinien:
I. Authentizität in ideen- und begriffsgeschichtlicher Perspektive

Semantiken und Konzepte - Authentisierungsprozesse im Wandel - Instanzen der Authentisierung - Authentizität und Wertediskurs

Themenlinie I widmete sich ausgehend von der Annahme, dass historische Authentizität insbesondere diskursiv erzeugt wird, den Semantiken und Konzepten des Authentischen. Der Schwerpunkt galt Forschungen zum neuzeitlichen Wandel von Authentizitätsdiskursen seit dem 16. Jahrhundert, den damit verbundenen Änderungen von Authentisierungsprozessen sowie der Ausbildung eines "kollektiven Gedächtnisses". Es wurden dabei die verschiedenen Instanzen der Authentisierung (Texte, Personen, Objekte, Ereignisse) ebenso in den Blick genommen wie die Einbettung der Authentisierungsdiskurse und -prozesse in (kollektive) religiöse, moralische oder ethische Wertehorizonte.

II. Ermittlung und Vermittlung  des Authentischen im Museum und sammlungsbezogenen Einrichtungen

Sammlungsidentitäten - Restaurierungsforschung - Vermittlungsforschung - Wissensgeschichte und Materielle Kultur

Eine Reihe von Praktiken des Authentisierens verleiht Objekten, Sammlungen und dem davon abgeleiteten Wissen ihren "authentischen" Wert für die Forschung und die Vermittlungs- und Bildungsarbeit in Museen, Archiven und vergleichbaren Einrichtungen. Diese Praktiken betreffen sowohl die "Ermittlung" als auch die "Vermittlung" von Authentizität: Zwischen diesen beiden Polen bestimmt sich der Wert eines Objektes oder einer Sammlung für die Gesellschaft.

Ziel der Themenlinie war es, auf einer breiten, interdisziplinären Basis zu reflektieren, welche Bedeutungsdimensionen und Funktionen "Authentizität" im Museum und in vergleichbaren Einrichtungen zukommt. Erforscht wurde, welche Authentisierungspraktiken und Beglaubigungsstrategien angewandt werden, wie Authentizität "ermittelt" und wie sie "vermittelt" wird, und welche Bedeutung ihr bei den Besuchern zukommt. Durch die Entwicklung von Forschungsprojekten sowie mit internationalen Tagungen, Workshops und Publikationen hat die Themenlinie einen Beitrag geleistet, die Dialog- und Vermittlungsarbeit sowie die Sammlungsstrategien von Museen und anderen sammlungsgeleiteten Forschungseinrichtungen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Dadurch sollen auch wesentliche Anregungen für die Museumspraxis entstehen.

III. Überlieferungsräume historischer Authentizität

Denkmalpflege - Gedenkstätten - Geovisualisierung - StadtLandschaften - Tourismusgeschichte - Weltkulturerbe

Untersucht wurden Grundfragen des Authentischen in städtebaulichen und kulturlandschaftlichen Diskursen sowie wissensspezifische und mediale Beglaubigungsstrategien von historischen Überlieferungsräumen. Ein besonderes Augenmerk lag auf der Denkmalpflege, dem Umgang mit der Baukultur, dem UNESCO-Weltkulturerbe sowie dem Geschichtstourismus in und außerhalb Europas. Untersucht wurde die Rolle von unterschiedlichen Akteuren und nationalen und transnationalen Organisationen bei der Zuschreibung von Authentizität. Diese Fragen wurden im Kontext von Fortschritts- und Modernisierungsdiskursen für den Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis heute in transnationaler Perspektive analysiert.

IV. Historische Authentizität als politisches und kulturelles Argument

Erinnerungskonflikte - Opferidentitäten - Public History - ReEncactment - Schulbuchforschung - Zeitzeugennarrative - "Immaterielles" Erbe

Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Konflikte sind durch Rekurse auf historische Authentizität geprägt. Diese werden zur Begründung und Abgrenzung von "Kulturen" und "Gemeinschaften", von nationalen, ethnischen, religiösen und anderen gruppenspezifischen Identitäten sowie zur Legitimation von Macht- und Herrschaftsansprüchen herangezogen. Untersucht wurde der Wandel von Authentizitätswahrnehmung und Authentizitätszuschreibung in internationalen und transnationalen Perspektiven. Dies erfolgte anhand von Projekten zu gesellschaftlichen, ethnischen, ideologischen und religiösen Erinnerungskonflikten und Machtbeziehungen, zur heroischen und viktimistischen Authentizität, zur Bedeutung von Zeitzeugenschaft und Autobiographik, dem Stellenwert des Authentischen in der Gedenkstättenarbeit und in verschiedenen Formaten der Public History. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Erforschung unterschiedlicher Modi des kollektiven Gedächtnisses sowie Quellen und Medien des Authentisierens gelegt: Von der mündlichen Überlieferung über autobiographische Selbstzeugnisse, Schulbücher und den Umgang mit wissenschaftlichen Sammlungen und materieller Kultur bis hin zu medialen Inszenierungsstrategien und zum Re-Enactment.