von Aliena Selina Stürzer, wissenschaftliche Voluntärin in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

„Bezeugte Erinnerung. Erzählen. Bewahren. Vermitteln“ lautete das Thema der 16. Europäische Sommer-Universität, die vom 28. August bis 1. September 2023 in der Gedenkstätte Ravensbrück stattfand.

Mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, den USA, Griechenland und den Niederlanden diskutierten über fünf Tage in Vorträgen, Diskussionen und Workshops unterschiedlichen Aspekten der Arbeit mit Zeugnissen von Zeitzeug:innen in Gedenkstätten. Untersucht wurden dabei die Veränderungen der Bedeutung von Zeugenschaft in den verschiedenen Phasen der Erinnerungskultur nach 1945. Dabei wurde auch die Herausbildung der Figur des Zeitzeugen als moralische Instanz kontextualisiert und kritisch hinterfragt. Ebenso lag ein Augenmerk auf der praktischen Auseinandersetzung mit neueren digitalen Formaten zur Präsentation von Zeitzeug:innen. So umfasste das Programm neben den Vorträgen auch thematische Rundgänge, eine offene Werkstatt zu digitalen Projekten und eine Forschungsbörse, bei der acht Nachwuchswissenschaftler:innen ihre Abschlussarbeiten vorstellen und mit den Anwesenden diskutieren konnten. Die Diskussionen reichten hier von der Analyse früher Gerichtsdokumente hin zu ethischen Überlegungen im Umgang mit digitalen Zeugnissen.

Eröffnet wurde die Europäische Sommer-Universität Ravensbrück am 28. August 2023 durch ein Gespräch zwischen der Gedenkstättenleiterin Andrea Genest und dem dänischen Ravensbrück-Überlebenden und Zeitzeugen Ib Katznelson. Dieses Gespräch und die Reflexion von Katznelson auf seine eigene Erfahrung und Rolle als Zeitzeuge setzten den Ton für eine Woche intensiver Diskussionen und Aktivitäten rund um das Thema Zeugenschaft.

Die Fachvorträge und Workshops am Dienstag legten zunächst die theoretischen Grundlagen zu den Begriffen Zeug:in, Zeugnis und Zeugenschaft. Aurélia Kalisky aus Berlin eröffnete den Tag mit einem Beitrag über den Wandel des Verhältnisses von Literatur und Zeugenschaft nach dem Holocaust. Sie plädierte für den Begriff einer testimonialen Literatur, der spezifische Kriterien für die Untersuchung von Zeugnissen in der Literaturwissenschaft beschreibt. Daniel Schuch aus Jena sprach anschließend über die Transformation von Zeugenschaft und bezog sich dabei auf Interviews von David P. Boder aus dem Jahr 1946 mit Überlebenden in DP-Camps.

Im Mittelpunkt des dritten Tages standen die Formate und Funktionen von Zeug:innenschaft. Hierzu fanden mehrere vertiefende Rundgänge über das Gelände der Mahn- und Gedenkstätte sowie der angrenzenden ehemaligen Außenlager statt.

Auf dem Panel am Nachmittag analysierte Roland Borchers (Berlin) die Rolle ehemaliger Zwangsarbeiter:innen im nationalen Gedächtnis in Polen und stellte fest, dass Zwangsarbeiter:innen in der polnischen Erinnerungskultur oft vernachlässigt werden, da ihre Erinnerungen nicht an das dominante Narrativ von Märtyrertum und Heroismus anschlussfähig sind.

Im darauffolgenden Beitrag diskutierte Dorothee Wierling (Hamburg) das Zusammenwirken von Zeug:innenschaft und Oral History und plädiert für eine Trennung des Zeitzeug:inneninterviews und der Oral History Praxis. Zeitzeug:innen, so Wierling, seien vornehmlich mit dramatischen historischen Geschehnissen und ihrer, meist juristischen, Bezeugung verbunden. Wohingegen die Oral History mit ihren Interviewpartner:innen assoziative Gesprächsformate nutzt und die subjektive Wahrnehmung in den Vordergrund rückt. Moderiert wurde dieses Panel von Thomas Schaarschmidt (ZZF).

Der Donnerstag unter dem Titel "Wandel der Medialität" befasste sich mit der digitalen Transformation von Erinnerung und Zeugenschaft. Das Panel wurden von Achim Saupe (ZZF) moderiert und beleuchteten Schlüsselthemen im Umgang mit digitalen Zeugnissen in der Vermittlung von NS-Geschichte.

Alina Bothe aus Berlin eröffnete den Tag mit einem Vortrag über Erinnerung im digitalen Zeitalter. Sie betonte die Bedeutung der Erschließung digitaler Zeugnisse für wissenschaftliche Forschungszwecke und brachte die Idee einer Metadatenbank zur Koordination von Archivbeständen ins Gespräch.

Anja Ballis von der LMU München lieferte einen Beitrag zur Wahrnehmung von Medienformaten durch junge Menschen, insbesondere durch die "Gen Z". Sie wies darauf hin, dass Medien heutzutage oft intramedial miteinander interagieren. Ballis betonte, dass Jugendliche ein starkes Interesse an Holocaust-Themen zeigen, jedoch Printmedien häufig ablehnen. Dies unterstreiche die Notwendigkeit, alternative Vermittlungsformate zu entwickeln, um die jüngere Generation zu erreichen. Der Vortrag von Anja Ballis verdeutlichte die vielschichtige Beziehung zwischen den verschiedenen Medien und der Generation, die sie nutzt, und stellte wichtige Überlegungen zur künftigen Vermittlung von Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden auf.

Abschließend widmete sich Tobias Ebbrecht-Hartmann sich der Zeug:innenschaft im digitalen Wandel. Er analysierte historiographische und mediale Aspekte von Zeugnissen und diskutierte, wie Historiker mit Zeugnissen in sozialen Medien umgehen sollten.

Zudem fand am 30. August 2023 eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema der (Zeit-) Zeugen in späten NS-Prozessen mit dem ehemaligen Staatsanwalt Thomas Walther, Astrid Ley (Gedenkstätte Sachsenhausen), Katharina Stengel (Fritz Bauer Institut) und Stephanie Bohra (Topographie des Terrors) statt, die auf reges Interesse stieß.

Die Sommer-Universität endete mit einem Ausblick von Elke Gryglewski von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und einer anschließenden Diskussion über die Zukunft von Zeitzeugenschaft an Gedenkstätten, moderiert von Andrea Genest. Dieser Teil der Veranstaltung war eine Gelegenheit, die gewonnenen Erkenntnisse und Perspektiven zusammenzuführen und Ausblicke auf die kommenden Entwicklungen in diesem Bereich zu werfen.

Die 16. Europäische Sommer-Universität in der Gedenkstätte Ravensbrück war eine äußerst abwechslungsreiche und gelungene Veranstaltung. Die Interdisziplinarität der vorgestellten Ansätze und die Teilnahme verschiedener Generationen von Wissenschaftlern, Studierenden und Praktikern aus dem Gedenkstättenbereich förderte einen fruchtbaren Dialog. Insgesamt ermöglichte die Veranstaltung über eine ganze Woche eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle von Zeugenschaft in der historisch-politischen Vermittlungsarbeit.

Die Europäische Sommer-Universität Ravensbrück wird von der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, dem Leibniz-Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“ und dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin veranstaltet und durch die Kulturförderung Oberhavel, die Dr. Hildegard Hansche Stiftung, den Internationalen Freundeskreis Ravensbrück e.V. und die Mercedes Benz Group gefördert.

Fotos: Gerberich, MGR/SBG.

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